Warum Angst nicht gleich Angst ist und wie wir betroffenen Hunden vollumfassend und nachhaltig helfen können, erklärt die Zoetis Expertin, Hundetrainerin und Tiermedizinische Fachangestellte Kristina Lagerweij.
Angst und Furcht werden oft in einen Topf geworfen, sind aber keineswegs das gleiche. Schauen wir uns zunächst die Angst an – und wie sich diese in 2 Bereiche einteilen lässt: „Wir unterscheiden bei Angst zum einen Urängste, wie z. B. der Angst vor Feuer, Schmerzen, lauten Geräuschen oder extremen Höhen/Tiefen, und zum anderen die Angst als Sorge vor einem subjektiv unangenehmen Gefühl, dem man sich nicht entziehen kann“, erklärt Kristina Lagerweij. Bei Urängsten handele es sich um evolutionsbiologisch angeborene und lebensnotwendige Schutzinstinkte. Die Angst vor einer unbestimmten, nicht einzuordnenden Situation hingegen beschreibe ein subjektives Gefühl. Ein drittes Konzept gesellt sich hier dazu. Denn werde Angst irrational und krankhaft, habe keine biologische Funktionalität mehr und nehme ein Lebewesen damit Nachteile in seinem Handeln in Kauf, werde das als Phobie bezeichnet.
Spezifischer wird es, wenn wir von Furcht oder Unsicherheit sprechen: Das beschreibt eine sehr spezifische Angst, etwa vor Gegenständen oder Personen. Bereits in sehr jungem Alter kann einiges schiefgehen, wie die Trainerin weiß: „Eine unsichere oder gar ängstliche Hündin wird ihren Welpen dieses Verhalten in der Sozialisierungsphase beibringen, beziehungsweise sie durch Stresshormone während der Trächtigkeit bereits über die Gebärmutter negativ beeinflussen.“ Junge Hunde sind also kein rein „unbeschriebenes Blatt“. Man spreche dennoch von erlerntem Verhalten, da man zum heutigen Wissensstand keine Gensequenzen für vererbbare Angst habe identifizieren können. „Die allermeisten Ängste, Unsicherheiten oder Phobien sind durch negative Erfahrungen erlernt, die in ihrer Intensität und Dauer durchaus unterschiedlich gewesen sein können. Nichtsdestotrotz scheint es Rassen zu geben, die eher zu Unsicherheiten und Ängsten neigen, weil eine hohe Sensibilität angezüchtet wurde.“
Angst bleibt nicht ohne Folgen
Es ist unsere Aufgabe, so einzugreifen und mit unseren Lieblingen zu arbeiten, dass Angst und Unsicherheiten nicht die Chance bekommen, sich über die Zeit zu verstärken. „Das Zusammenleben mit ängstlichen und unsicheren Hunden kann zum Spießrutenlauf werden. Alle Beteiligten, besonders aber die betroffenen Hunde, verlieren massiv an Lebensqualität, und der Leidensdruck ist enorm, sowohl psychisch als auch körperlich“, sagt Kristina Lagerweij. Anspannung wirkt sich negativ auf den Körper aus – das kennen wir von uns selbst: Sie führt zu Verspannungen bis hin zu Fehlhaltungen. Bleibe das unentdeckt und unbehandelt, drohten Erkrankungen des Bewegungsapparates. „Psychischer Stress ist auch immer körperlicher Stress durch die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Aldosteron, Glucagon oder Cortisol. Ständig gestresste Hunde werden also schneller krank.“
Häufige Angstauslöser
Was Angst auslöst, ist von Tier zu Tier verschieden. Zudem wird bei negativem Stress oder Angst auch nicht in jedem Hund der gleiche Hormoncocktail freigesetzt. Daher sind, wie die Expertin betont, Ängste und auch Furcht oder Phobien sowohl tiermedizinisch als auch trainerisch individuell zu betrachten. Bestimmte Themen kommen jedoch gehäuft vor. Ein Klassiker: die Angst vor Silvester.
„Leider kommen viele Hundebesitzer viel zu spät und fragen dann ihren Tierarzt nach Medikamenten oder Futtermittelergänzungen, um diese extreme Nacht zu überstehen. Wenige Tage vor Silvester kann man nicht mehr an ein adäquates Training denken. In vielen Fällen ist die Angst an Silvester, genau genommen eine Phobie, auch mit Medikamenten nur halbwegs erträglich, aber mit gezieltem Training kann man die Situation immer verbessern“, weiß die Trainerin. Auch an Orte mit Feuerwerksverboten zu flüchten, sei eine Option. Könne oder wolle man nicht verreisen, eigneten sich Flughäfen oder ländlich gelegene Autobahnen gut dazu.
Ängste erkennen
Von den 5 Fs hast du bestimmt schon gehört: Es handelt sich dabei um die bekanntesten Verhaltensweisen bei Angst:
- Flight (Flucht)
- Fight (Angriff)
- Freeze (Erstarren)
- Faint (Ohnmacht, kommt bei Hunden eher nicht vor)
- Fiddle about (übertriebenes Albern, Übersprungshandlungen).
„Ist die erstgewählte Strategie nicht möglich, wird der Hund versuchen, eine andere zu wählen“, sagt Kristina Lagerweij. „Möchte er z. B. auf dem Behandlungstisch aus Angst flüchten, wird aber festgehalten, kann es sein, dass er ins ‚Freeze‘ wechselt.“ Besonders in der Tierarztpraxis oder beim Hundefriseur solle man dies bedenken. Und: „Ergibt sich der Hund vermeintlich, indem er erstarrt, hat er immer noch Angst. Zudem wird er an dieser Stelle nie lernen, dass er keine Angst haben muss, da das Festhalten und der Angst Ausgesetztsein zur Reizüberflutung führt (‚Flooding‘).“ Das Gehirn lasse biochemisch kein Lernen mehr zu.
Hunde kommunizieren über ihre Körpersprache und -haltung, ebenso wie ihre Mimik. Besonders auffällig bei Angst ist z. B.:
- angeklemmt bis eingeklemmt getragene Rute, deren Spitze bei starker Angst in Richtung Kopf zeigt.
- gesenkter Kopf mit abgewandtem Blick
- angelegte Ohren, eine nach hinten gezogene (offene) Maulspalte
- oft einhergehend mit Hecheln
- Stressfalten oberhalb der Maulwinkel unter den Augen
- die Augen können weit geöffnet sein mit erweiterten Pupillen
- die Beine sind gebeugt, immer mit der Option, wegzuspringen.
Ängstliche Hunde zeigen der Expertin nach meist einen Rundrücken, der Schwerpunkt der Gewichtsverteilung liege hinten, und oft zitterten sie am ganzen Körper. „Auch Übersprungshandlungen wie Kratzen, Schütteln oder Lecken über die Nase können schon früh auf Stress hindeuten.“ Wer diese Zeichen sieht und richtig deutet, hat die Chance, schnell einzugreifen.
Der Angsthund
Es gibt viele ängstliche oder unsichere Hunde, die wegen verschiedensten Gründen sehr holprig ins Leben gestartet sind, darunter traumatische Erlebnisse, schlechte Aufzucht, ein Mangel an oder schlechte Erfahrungen in der Sozialisierungsphase. Die Antwort der Expertin auf die Frage, ob man hier von „Angsthunden“ sprechen kann: „Jein! Leider wird der Begriff Angsthund oft an der falschen Stelle oder auch als Entschuldigung für unerwünschtes Verhalten jeglicher Art verwendet und steht mehr im Weg, als nützlich zu sein. Diese Hunde zu bemitleiden, ist gerade bei Angst und Unsicherheit ein schlechter Berater. Mit der richtigen Herangehensweise lassen sich aber tolle Verbesserungen erzielen, weshalb man nie einen Hund als Angsthund abstempeln sollte.“
Angst therapieren
Wie erwähnt ist die Thematik höchst individuell. „Neben der Aufzucht und wichtigen Sozialisierungsphase wird sie auch durch Faktoren wie Fütterung, Schmerz, frühe Kastration (führt zu Hormonungleichgewicht) und vieles mehr beeinflusst“, gibt Kristina Lagerweij zu bedenken. „Ich empfehle generell, eine gute Hundeschule zu besuchen. Mit dem Welpen in der Sozialisierungsphase zur Welpengruppe, mit dem Junghund, um selbst das Management in Alltagssituationen zu erlernen, mit dem frisch eingezogenen Tierschutzhund, um eine unabhängige Einschätzung und Trainingstipps für diese oft speziellen ‚Felle‘ zu bekommen.“ Auch Hundesenioren profitierten etwa von entspanntem Geräteturnen. „Grundsätzlich sollten wir mit unseren Hunden arbeiten und das Gehirn fit halten, denn in jedem Lebensabschnitt können Ängste und Unsicherheiten entstehen oder verstärkt werden.“
Ängste bzw. Phobien ganz abzubauen, sei meist nicht möglich, aber man könne mit der geeigneten Herangehensweise allen Beteiligten das Leben deutlich erleichtern. „Regeln und Strukturen im Alltag sind sehr wichtig, damit nicht jeder Tag als Topfschlagen im Minenfeld endet“, sagt die Trainerin. Das heiße für uns Menschen aber auch, die Grundbedürfnisse des Hundes zu kennen und uns an das Zusammenleben mit einem ängstlichen Tier anzupassen. „Wir müssen umdenken, um unseren Hunden zuverlässige Begleiter zu sein, an denen sie sich auch in stressigen oder beängstigenden Situationen orientieren möchten.“
Ängstliche Tiere müssten aus hündischer Sicht souverän sowie vorausschauend durch den Alltag begleitet werden. „Wer selbst mitleidet und Unsicherheit zeigt, kann dem ängstlichen Hund kein guter Begleiter in beängstigenden Situationen sein. Viele unserer Verhaltensweisen erschließen sich einem Hund nicht. Ein Beispiel: frontales Aufeinanderzugehen, sich dabei ansehen und freundlich grüßen, gehört für uns zum guten Ton. Für den Hund fällt es in die Kategorie Drohgebärde und wird ihn eher verunsichern. Wenn ich also meinen unsicheren Hund immer wieder in diese für ihn unangenehme Situation bringe, wird er kaum Vertrauen in meine Führungsqualitäten bekommen.“
Bleiben Problemen trotz des passenden Trainings bestehen, sollte ein:e Tiermediziner:in zu Rate gezogen werden; hinter Verhaltensveränderungen stecken unter Umständen auch Schmerzen oder Erkrankungen. Wichtig: „Jeder Hund, unabhängig von Rasse oder Mix, kann durch Traumata, schlechte Zähne, frühzeitige Arthrosen, genetische Veranlagungen und vieles mehr bereits in jungen Jahren unter Schmerzen leiden und damit Angst und Unsicherheit verstärken bzw. überhaupt erst entstehen lassen.“ Als Unterstützung des Trainings bei Angst ließen sich häufig auch Ergänzungsfuttermittel und Medikamente einsetzen, um Lernen überhaupt wieder zu ermöglichen. Helfen können dabei viele Tierärztinnen und Tierärzte sowie gut ausgebildete Futterberater:innen.
Angst ignorieren?
Wer einen Hund mit Angstthematik hat, tut diesem wie erwähnt keinen Gefallen, wenn er ihn bemitleidet oder in seiner Angst bestärkt. „Das heißt nicht, dass ich den Hund komplett der Situation überlasse und ihn nicht beachte“, klarifiziert Kristina Lagerweij. „Das häufigste Motto in meiner Ausbildung zur Hundetrainerin war: ‚je nach Hund‘. So individuell die Angst oder Unsicherheit ist, so individuell kann die Bewältigungsstrategie aussehen. Wobei Konfrontationstherapie oder Bestrafung nicht zielführend sind – ganz im Gegenteil!“ Die Folge der Bestrafung unerwünschten Verhaltens lasse sich mit einem verschlossenen Dampfkessel vergleichen: Früher oder später werde er dem Menschen um die Ohren fliegen.
Allgemein rät die Trainerin dazu, in Sachen Körpersprache Bescheid zu wissen: „Erst wenn ich weiß, wie sich mein Hund fühlt und was er kommuniziert, kann ich frühzeitig und angemessen diese unangenehme Situation oder das Verhalten umleiten, bevor es emotional eskaliert – und das meist auf beiden Seiten, was perspektivisch zu keiner besseren Mensch-Hund-Beziehung führt.“ Besonders bei ängstlichen oder unsicheren Hunden könne es Sinn ergeben, auf eine Kastration zu verzichten – die im Übrigen laut Tierschutzgesetz nur erlaubt ist, wenn ein medizinischer Grund sie nötig macht.
Selbstbewusstsein stärken
Dicht gefolgt auf die Fähigkeit, Körpersprache richtig zu deuten, folgt laut der Trainerin die Bereitschaft, schwierige Situationen für den (ängstlichen) Hund zu regeln. Ein:e gute:r Trainer:in kann mit einem strukturierten Plan helfen. „Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem fremden Land bei Lebewesen, die eine andere Sprache sprechen und Sie immer wieder in unangenehme Situationen bringen, aus denen Sie sich nicht entziehen können. Das ist zum einen ein Vertrauensbruch, zum anderen würden Sie so kein Selbstbewusstsein erlangen.“
Lasse mögliche Erkrankungen unbedingt ausschließen. Dann steht Aktivitäten, bei denen der Hund sein Selbstbewusstsein aufbauen kann, nichts im Wege. „Dazu zählt z. B. Mantrailing, wobei er sich auf sein geruchliches Können verlassen muss“, sagt die Trainerin. Grundvoraussetzung sei natürlich, dass das Tier sich draußen auf etwas Neues einlassen könne und Spaß daran habe, die Nase einzusetzen. „Oft wachsen dabei Hunde, die umweltunsicher oder unsicher mit Personen sind, über sich hinaus“, weiß Kristina Lagerweij. „Auch ein Koordinationstraining zur Verbesserung des eigenen Körpergefühls kann hilfreich sein.“ Zuhause helfen mitunter Futtersuchspiele oder Intelligenzspielzeuge. Diese müssen so einfach sein, dass der Hund sie selbstständig schafft, aber trotzdem eine kleine Herausforderung bieten.
Ein Appell
„Ich wünsche mir, dass das Thema Angst bei Hunden und alle dafür verantwortlichen Faktoren besser wahrgenommen werden“, sagt die Trainerin. „Das betrifft nicht nur die Halter, sondern auch Hundetrainer:innen, Tierärzte und Tierärztinnen, Tiermedizinische Fachangestellte, Hundefriseure und Hundefriseurinnen – einfach jede Person, die mit Hunden zu tun hat.“