AUS DEM ARCHIV: 

"Liebe Frau Holst,

ich habe vor einigen Monaten einen zwei Jahre alten Malinois-Mischling bei mir aufgenommen. Habe den Hund schon zuvor 8 Monate lang im Tierheim betreut... sie (hört auf den Namen Tessa) war schlicht und einfach DER Problemfall des TH. Bei 'nem schlechten "Züchter" (Mischling) in 'nem Zwinger aufgewachsen, wo sie laut Tierheimleiterin schon der eigene Vater regelmäßig verbissen hat.

Irgendwann wurde sie dann an eine Familie verkauft, die sie aber letztlich nur auf dem Hof hielt - ohne Familienanschluss. Und schließlich verbrachte sie noch 1 Jahr im TH. Da ich mich gerade in den ersten Wochen extrem überfordert mit ihr fühlte (mein erster Hund - bin, um sie aufnehmen zu können von Zuhause ausgezogen), schaltete ich zunächst eine Psychologin ein, die mir von einer hiesigen Hundeschule empfohlen wurde.

Die Dame erkannte bereits die ersten Dominanzprobleme - ich ließ sie anfangs in meinem Bett schlafen, an der Leine ziehen etc. ... nun, zu Anfang besaß sie recht. Nachdem sie mir teils recht humane, teils brachiale Erziehungsmethoden (sie arbeitet bspw. auch mit Würgehalsbändern) vorschlug, beschloss ich letztlich mein eigenes Ding durchzuziehen... mit den Methoden, die ich für angemessen hielt.

Die Situation besserte sich dann auch nach und nach und trotzdem blieben Probleme, bei denen ich einfach nicht weiter weiß. Tessa ist mittlerweile leinenführig und beherrscht auch die Grundkommandos ganz passabel (nicht 100 pro, aber im Allgemeinen). Ihre Probleme sind allerdings die Aggressivität an der Leine (wenn keiner der beiden Hund angeleint ist, verlaufen Begegnungen grundsätzlich friedlich, ansonsten hängt sie sich wie wild in die Leine, bellt was das Zeug hält und sträubt ihre Nackenhaare) gegenüber anderen Hunden sowie die ständige Unsicherheit draußen, die in Gegenwart von LKWs oder Bussen auch schon 'mal in Panik umschlägt.

Draußen fixiert sie quasi jeden Passanten, jedes Auto und lässt mich links liegen. Meine Kommandos führt sie dann zwar aus, allerdings ist sie dabei nie ganz bei der Sache. Wenn ich bspw. "Sitz" sage, setzt sie sich, aber gerade so, dass sie die Situation noch im Blick hat. Ich hoffe, sie haben einen besseren Ratschlag als Leinenruck (bei Begegnungen mit anderen Hunden) oder Aussitzen, bzw. stundenlanges Verharren in Angstsituationen (nach dem Motto: irgendwann gewöhnt sie sich dran) für mich.

Liebe Grüße und vielen, vielen Dank im Voraus! Johannes"

P.S. Die Therapeutin meinte auch, ich sollte mit Tessa einen Schilddrüsentest machen, da sie nicht nur leicht ablenkbar, sondern auch permanent sehr dünn ist (trotz Leistungsfutter Bozita Robur Performance... entwurmt ist sie auch). Mein Tierarzt riet mir aber davon ab, da sie für 'ne Schilddrüsenfehlfunktion zu "quirlig" sei.

Johannes mit Tessa (2 Jahre alt)

Die Expertin: Tessa braucht Entspannung und Ruhe

Zunächst einmal meine Hochachtung vor Ihrem Engagement! Umso trauriger, dass die Psychologin keine wirkliche Hilfe an Ihrer Seite war. Und bei so einem traumatisierten Hund von "Dominanzproblemen" zu sprechen halte ich für eine völlige Fehldiagnose. Die Ressourcen -und Angstaggression wird leider oft mit der sogenannten "Dominanz" verwechselt. Bei der Dominanz, die übrigens meist nur innerartlich auftritt, ist keine Ressource im Spiel. Von daher war der Bettverweis auch überflüssig. Im Gegenteil, diese Nähe wäre sicherlich dem Bindungsaufbau zwischen Ihnen und Tessa sehr zuträglich. Anders würde es sich verhalten, wenn der Hund seinen Menschen nicht mehr ins Bett lässt und dies als Ressource verteidigt. Aber dieses Verhalten habe ich Ihren Zeilen nicht entnommen. Auch hat die Leinenführigkeit nichts mit Dominanz zu tun sowie ein Würger kein adäquates Erziehungsmittel ist.

Halti gibt ängstlichen Hunden Sicherheit

Um Tessa die Sicherheit zu geben, die sie draußen benötigt, würde ich mit dem Halti als Hilfsmittel arbeiten. Gerade unsichere, ängstliche Hunde erfahren durch dieses duale Führsystem die Sicherheit die sie brauchen, um sich zu entspannen und los zu lassen. Hierbei ist es wichtig den Hund spüren zu lassen, dass Sie als Mensch alles unter Kontrolle haben. Dies bedingt ruhiges und vorausschauendes Handeln. Also nicht schnell am vermeintlichen Hindernis vorbei eilen, sondern ruhig und besonnen bleiben. Und je nach Stresssituation des Hundes, ihn Schritt für Schritt durch die Konflikte führen.

Mentaltraining nach Thomas Baumann

Ideal wäre mit Hilfe eines lizensierten Trainers La-Ko-Ko®. Hierbei handelt es sich laut Thomas Baumann "um ein junges, sehr effektives Mentaltraining für Hund und Halter, das unter völligem Ausschluss positiver Verstärker wie Leckerli oder Spielzeug nur auf einer sozialen Basis zwischen Zwei- und Vierbeiner gestützt wird. Der positive Effekt ist auch aus verhaltensbiologischer Sicht erklärbar. Der Begriff La-Ko-Ko® setzt sich wie folgt zusammen: Langsamkeit-Konzentration-Koordination Durch äußerst langsame motorische Bewegungsabläufe im Führ-Training entsteht ein sozialer, meditativer Charakter mit sehr beruhigenden Auswirkungen. Hoch konzentriertes und völlig neu koordiniertes Führverhalten steht im Mittelpunkt des Trainings. Besonders unsichere, ängstliche und nervöse Hunde profitieren durch die La-Ko-Ko®-Übungen im besonderen Maße. Eine ausgezeichnete Hilfestellung in der Problemhund-Therapie". Ich selbst habe in Seminaren bei Thomas mittels dieser Übungen gerade bei unsicheren und angstaggressiven Hunden erstaunlich schnelle Erfolge beobachten können.

Tierarzt sollte Schilddrüsen-Probleme ausschließen

Darüber hinaus ist es meines Erachtens immer sinnvoll, regelmäßig einen Gesundheitscheck zu machen. Die Schilddrüse betreffend wird auch beobachtet, dass einige Hunde zunächst eine Überfunktion aufweisen, bevor sie dann in der Unterfunktion enden. Das heißt, Gewichtsreduktion und diffuses Verhalten könnten ein Indiz sein. In Ihrem konkreten Fall würde ich mir jedoch zuerst die Inhaltsstoffe des Futters betrachten. Ist beispielsweise Mais ein Hauptbestandteil in Tessas Futter, möchte ich Ihnen raten dieses zu wechseln.

Mais kann das zentrale Nervensystem stören

Denn Mais, wie Weizen und Soja auch, können zu Störungen im zentralen Nervensystem führen. Mais ist oftmals sehr arm an Tryptophan und kann bei Hunden, die auf Serotoninmangel empfindlich reagieren, bedenklich sein. Hierzu ein kleiner Exkurs: "Die Aufnahme der Aminosäuren Tryptophan (Vorstufe für Serotonin) und Tyrosin (Vorstufe für Noradrenalin und Dopamin) über die Nahrung hat einen deutlichen Effekt auf die Biosynthese und Konzentration von Neurotransmittern, Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Noradrenalin ist für hochgradige Erregungszustände verantwortlich, Dopamin reguliert Reaktivität und Aufmerksamkeit, Serotonin beeinflusst Stimmungen, Erregungszustände und Schmerzempfindlichkeit. Ein Serotoninmangel im Gehirn gilt als Schlüsselfaktor bei der Entstehung von Aggressivität, Impulsivität, asozialem Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, Angstzuständen und Konditionierungsproblemen. Hunde, bei denen ein Serotoninmangel im Gehirn festgestellt wurde, erwiesen sich als sehr schmerzempfindlich, stark reaktiv und besonders emotional." (Autor: Dr. med. Hans Günter Kugler, Quelle: diagnostisches-centrum.de)

Ich denke mit Ihrer Willensstärke werden Sie es schaffen, das Vertrauen und die Bindung aufzubauen, die Tessa für ihr Selbstbewusstsein benötigt. Mit den besten Wünschen für sie Beide!

Ihre Christine Holst

Wichtiger Hinweis: Diese Beiträge ersetzen nicht den Gang zu einer Hundeschule oder einer kompetenten Fachperson. Die Antworten sollten vielmehr als erste Ratschläge dienen, um die Entwicklung des Hundes in die richtige Bahn zu lenken.